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Es ist unwahrscheinlich, dass es je wieder jemand wie J.R.R. Tolkien geben wird
- ein modernen Klassiker

- Daily Telegraph -



ZUR VERTEIDIGUNG VON MITTELERDE

Über Patrick Curry´s Untersuchung "Defending Middle Earth"

An die Werke von Kunst und Literatur wird häufig die Frage gestellt: "Worin besteht die Relevanz dieses Werkes für mein/unser Leben oder für die Gesellschaft?". Wenn Günter Grass in diesen Tagen den Literaturnobelpreis für sein Lebenswerk erhält, dann sicherlich auch deshalb, weil dieses Lebenswerk es dem interessierten Leser ermöglicht, das Leben der Menschen in totalitärer und nachtotalitärer Zeit zu verstehen und weil es eventuell verhindern hilft, die Fehler, die Gesellschaft und Politik machen, zu wiederholen, indem es mittels eines Brennglases die deutsche Tragödie dieses Jahrhunderts widerspiegelt. Die Werke von Grass und vieler seiner Vorgänger sind fest in der Primärwelt verankert, beschreiben diese und geben manchmal überzeugende Antworten darauf, wie man sich in der Primärwelt verhalten sollte. Selbst Schriftsteller wie Gabriel Garcia Marquez spiegeln mit den Phantasmen in ihren Werken bewußt und voller Absicht die Primärwelt.

Daß Tolkiens fiktionales Werk mit der Primärwelt nichts zu haben wollte, konnte ich bis hierhin hoffentlich verdeutlichen. Tolkien setzte seine Zweitschöpfungen in eigenem Recht in einen Raum, der keine Berührungspunkte mit unserer realen Welt haben sollte. Natürlich konnte auch Tolkien nur vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen und seiner Sozialisation in Sagen und Mythen schreiben. Er konnte seine Geschichte nicht bezugslos komplett neu schöpfen und mußte auf Erzählmotive anderer Menschen und Gesellschaften zurückgreifen. Ich habe in diesem Zusammenhang den christlichen Schöpfungsmythos, die Edda und den mitteleuropäischen Sagenkreis genannt. Aber die Welt von Mittelerde ist ein eigenes Universum, das korrekt nur verstehen kann, wer es als solches liest und nicht versucht, Parallelen zur realen Welt herzustellen. Sein Zweck ist neben dem der Unterhaltung der, den Tolkien in "On Fairy-Stories" als Initiierung der Phantasie, als Wiederbesinnung (Wiederherstellung) auf das Staunen, als Trost und als Flucht gekennzeichnet hat.

Nun scheint es aber leider so, als ob die Kritiker des HdR Tolkien dies einfach nicht glauben oder leiden mochten. Patrick Curry hat sich in dem sehr lesenswerten Buch "Defending Middle Earth", das leider noch nicht auf Deutsch übersetzt wurde, mit der Kritik an Tolkien beschäftigt. Dabei fällt auf, daß die von Curry behandelte Kritik nicht die handwerkliche Qualität der Erzählung zum Inhalt hat. Und ich muß hinzufügen, daß auch mir keine Kritik bekannt ist, die Tolkien vorgeworfen hätte, schlecht zu erzählen. Statt dessen wird Mittelerde wechselweise oder in Kombination vorgeworfen, chauvinistisch ["paternalistic"], "reaktionär, anti-intellektuell, rassistisch, faschistisch und [...] insgesamt irrelevant" zu sein (Curry 1997, S. 16). Diese Kritik entspringt nach Curry einem Reduktionismus, der die Integrität der Werke Tolkiens dadurch verletzt, daß er die Inhalte nicht als einfach für sich stehend akzeptiert, sondern alle Handlungen und Geschehnisse so interpretiert als stünden sie allegorisch für etwas aus unserer Primärwelt. Um es gleich vorweg zu nehmen, Curry ist der Ansicht, daß all diese Kritikpunkte vollkommen unangebracht sind - und ich denke, daß er damit Recht hat.

Natürlich erscheint im HdR das als "gut" was für Tolkien auch in der primären Welt liebenswert ist: das bäuerliche Leben im Auenland, die Schönheit, die die Elben schon durch ihre Sprache verkörpern und das immer wiederkehrende Motiv der Bäume. Und es erscheint das als "Böse", was Tolkien auch im realen Leben als bedrohlich empfand: die Ödnis Mordors als Gegensatz zur gesunden Natur und das Maschinenmotiv im geschändeten Auenland. Das ändert aber nichts daran, daß es sich bei Mittelerde um eine Schöpfung handelt, die der Primärwelt eigenständig gegenüber steht. Curry argumentiert in diese Richtung, wenn er sagt, daß der HdR ein eigenes Leben habe. Wenn Curry dann weiter schreibt, daß dieses eigene Leben sogar darüber hinaus gehe, was Tolkien mit den Geschichten erzählen wollte, so trifft er damit den Punkt, daß Fairy-Stories Phantasie auf Seiten der Leser und Hörer verlangen und so zu einer je individuellen Aneignung führen. Diese individuelle
Lesart guter Fairy-Stories erhebt sie nun ebenfalls über verallgemeinernde allegorische Deutungsbemühungen, da ein jeder Rezipient sich die Geschichten selbst aneignet.

Ich möchte zur Illustration der falsch verstandenen Tolkienexegese ein Beispiel für eine wohlwollende, aber völlig danebengehende Interpretation übernehmen, das Curry anbringt. Jack Zipes schreibt in "Breaking the magic spell" (zit. n. Curry, 17), daß der kleine Hobbit eine Allianz zwischen der unteren Mittelklasse - Bilbo Beutlin - und der Arbeiterschaft - den Zwergen um Thorin Eichenschild - repräsentiere, die sich zusammengefunden habe, um einen parasitären kapitalistischen Ausbeuter zu stürzen - den Drachen. Die Interpretation sei zwar amüsant, so Curry, aber sage doch deutlich mehr über den Marxismus aus, als über den kleinen Hobbit.

Aber erlaubt die individuelle Sichtweise nicht gerade die mutwillige Interpretation des Werkes in ganz eindeutige Richtungen? Kann man Tolkien also mit gewissem Recht als Chauvinisten und Rassisten sehen? Vielleicht. Aber dann müßte die richtungweisende Interpetration schon sehr überzeugend sein - und das ist sie bis jetzt nicht! Sehen wir nun einmal nach, wie man die wesentlichen Kritikpunkte an Tolkiens Mittelerde auch (!) behandeln kann.


1. Rassismus
Der Vorwurf des Rassismus bezieht sich darauf, daß einerseits die Helden des HdR von typisch europäischer Erscheinung sind, während andererseits die bösen Völker aus dem Osten und Süden kommen, klein und von dunkler Hautfarbe sind und teilweise geschlitzte Augen aufweisen. Aber so kann und muß man einwenden: 1. Das Böse ist von ursprünglich engelhafter Herkunft. 2. Sauron, Saruman und der Herr der Nazgul sind ebenfalls Weiße. 3. Hobbits weisen keinerlei als wünschenswert arisch zu bezeichnende Merkmale auf. 4. Das Böse befällt auch die blonden, hochgewachsenen Recken von Rohan und Gondor. 5. Daß der Ring überhaupt vernichtet werden kann, hängt von der Zusammenarbeit und Freundschaft der gemischtrassigen Freundesgruppe von Menschen, Elben, Hobbits und Zwergen ab. Tolkien selbst hat den Vorwurf, daß der HdR rassistisch sei, entschieden abgelehnt und die zentrale Rolle der so europäisch wirkenden Länder, in denen die Handlung spielt, damit begründet, daß natürlich die Phantasien, die er erzähle sich nur aus dem speisen könnten, was er kenne und er sei nun einmal Europäer also müsse auch der Westen Mittelerdes europäisch wirken.

2. Faschismus
Der HdR ist immer wieder mit Wagners "Ring der Nibelungen" verglichen worden. Tolkien mochte Wagner nicht und er mochte explizit die Götterdämmerung nicht und einmal soll er aufgebracht gesagt haben: "Beide Ringe sind rund - und damit enden die Gemeinsamkeiten!" Das Bild des titanischen Kampfes dient den entsprechenden Kritikern als Nachweis für faschistische Tendenzen. Und sonst? Der HdR feiere aristokratische und feudalistische Ideale und stütze autoritäre Handlungsweisen, heißt es. In der Tat ist es so, daß Teile der Handlung durch starke und adlige Charaktere vorangetrieben werden, bspw. Aragorn, König Theoden und Boromir. Aber die Entscheidung bringen gerade die kleinen und sich selbst unsicheren Gestalten wie Bilbo, Frodo, Sam und sogar Gollum. Demgegenüber spielt ein allerdings faschistisch anmutender Macher wie Boromir durch seinen Autoritarismus und seinen Glauben an die eigene aristokratische Überlegenheit dem
Bösen in die Hände. Die wesentliche politische Aussage des HdR, so man denn unbedingt eine hineinlesen muß ist doch die, daß autokratische Machtvollkommenheit in das Verderben führt. Es wäre für Elrond, Galadriel und Gandalf doch viel einfacher gewesen, den Ring und damit alle Macht zu nehmen. Aber gerade dieses Ding - die absolute Macht - hätte doch auch sie korrumpiert. Ich weiß nicht wie man hier auf Faschismus kommen kann!

Zur Entkräftung des Faschismusvorwurfs können wir übrigens auch Tolkiens eigene ("liberale" - so Pearce 1998, S. 133) politische Überzeugung anführen. Eine seiner wenigen Einlassungen zu seiner politischen Überzeugung findet sich in einem seiner Briefe und lautet: "My political opinions lean more and more to Anarchy (philosophically understood, meaning abolition of control not whiskered men with bombs) - or to 'unconstitutional' monarchy" (Carter 1981, S. 63). Diese Einstellung lässt sich nicht mit Faschismus in Übereinstimmung bringen.

3. Chauvinismus - Paternalismus
Die Handlung des HdR wird zu nahezu hundert Prozent von Männern getragen - daß Eowyn den Herrn der Nazgul tötet, ist dabei zu vernachlässigen, dient sie doch nur als Werkzeug der mystischen Prophezeiung, daß kein Mann dies fertigbringe (wäre ein Ent glaubhaft zur Hand gewesen, hätte der auch gereicht - so könnte man meinen). Dem ist wohl so. Aber ist das dann Chauvinismus? Vielleicht - wenn man es so liest, daß Tolkien durch die einseitig männliche Besetzungsliste Frauen die
Chance nimmt, auf die Geschehnisse, die schließlich alle Bewohner Mittelerdes betreffen, gleichberechtigt Einfluß zu nehmen. Daß die klassische Frauenrolle durch die Leidenspose Arwens, die nur passiv darauf warten kann, das Aragorn wiederkommt, unterstützt wird, macht es auch nicht leichter. Wenn man dies also so lesen will - bitte. Was aber meiner Meinung nach nicht geht, ist, der Handlung Sympathie für Paternalismus und diesem folgend Chauvinismus vorzuwerfen. Paternalismus definiert sich als autoritäre Bevormundung anderer und Chauvinismus ist eine direkte Steigerung davon. Für diesen Vorwurf gilt aber das Gleiche, was ich soeben über den faschismusimmanenten Autoritarismus gesagt habe: Wo dieser im HdR vorkommt, wird er als falsch gebrandmarkt. Ein weiteres Beispiel dafür ist nun doch Eowyn. Sie handelt direkt gegen den Befehl Theodens, den Heerzug nicht zu begleiten und tötet dann den Nazgul. Hätte sie das nicht getan, hätte dieser Gandalf am Stadttor von Minas Tirith wohl getötet. Minas Tirith wäre doch gefallen und das letzte Heer wäre niemals vor die Tore Mordors gezogen. Dann aber wäre das Auge Saurons nicht abgelenkt gewesen und er hätte die Ausstrahlung des sich nähernden Rings wohl bemerkt ... Will man aus der Handlung des HdR eine Lektion ziehen, so kann die allenfalls lauten, daß alles ineinander greift und niemand sich das Recht anmaßen kann, für andere zu entscheiden, was gut und richtig ist. Insofern greift der Chauvinismusvorwurf zu kurz. Und zwar auch dann, wenn es um Chauvinismus von Männern gegenüber Frauen geht, denn dessen Kern ist ebenfalls die Bevormundung und Übervorteilung. Sympathie für Bevormundung gibt der HdR aber nicht her.

4. Flach- und Dummheit
Ein Vorwurf der Tolkien, aber wohl nicht nur ihm, sondern dem gesamten Genre der phantastischen Literatur immer wieder gemacht wird, ist der, flach und kindisch zu sein. Also das zu sein, was man gerne als Schundliteratur bezeichnet. Diese Kritik vergißt natürlich als erstes, daß die Epen Homers, die Heldendichtung Ariosts und auch der Mittsommernachtstraum Shakespeares - obwohl unstreitig als hohe Literatur angesehen - nicht gar so anders sind. Sie sind nur älter und haben schon
Generationen inspiriert. Diese Werke sind über Jahrhunderte und Jahrtausende bis auf uns gekommen, weil sie irgend etwas gehabt haben, was die Menschen dazu veranlaßt hat, sie zu bewahren. Vielleicht sollte man auch die zeitgenössische phantastische Literatur dem Urteil der Generationen übergeben. Denn natürlich gibt es grottenschlechte Machwerke. Ich bin aber davon überzeugt, daß die sich auch ganz ohne kritisches Zutun des Bildungsbürgertums und erst recht ohne Bücherverbrennungen erledigen werden.
Oder ist das Element, an dem sich die Kritiker stören, daß der Unwissenschaftlichkeit, der Weltferne und der Umstand, das wir nichts Nützliches daraus lernen? In "Effi Briest" lernen wir, was Intoleranz und echter Chauvinismus anzurichten vermögen. Der "Faust" zeichnet ein lehrstückhaftes Bild von menschlichem Streben, menschlicher Hybris und vom Scheitern. Und der HdR? Zugegebenermaßen lehrt er uns kaum etwas - außer Zuzuhören und (mit) zu schöpfen. Er will aber
auch gar nichts lehren, wie die Gegenwehr Tolkiens gegen Allegorien zeigt. Folgt daraus Kritikwürdigkeit? Vielleicht weil der HdR unsere Zeit verschwendet, da er uns nichts lehrt? Ich denke kaum. Denn zuhören zu lernen und sich der möglichen Schaffenskraft der eigenen Phantasie zu öffnen ist natürlich ein Lernerfolg. Ganz davon abgesehen, daß ein Lernerfolg schon ist, der Sprache und Ausdrucksweise Tolkiens zu lauschen und so die Möglichkeiten von Sprache und Kommunikation im Bereich des Undinglichen zu erfahren.

... aber es ist doch, so der 5. Vorwurf "Irrelevant"
Relevanz eines Kunstwerks, aber auch Relevanz einer Sache allgemein heißt, die Bedeutung dieser gegebenen Sache zu bestimmen. Das kann aber nur eine ganz individuelle Zuweisung sein. Jeder muß die Dinge in der Welt selbst auf ihre persönliche Relevanz hin beurteilen. Deshalb spricht aus einem pauschal erhobenen Vorwurf der Irrelevanz, der ja darauf hin ausgedehnt wird, daß die Kritik den HdR als für mich irrelevant bestimmen zu können glaubt, nicht viel mehr als Arroganz,
allenfalls gepaart mit Zynismus und Snobismus (S. 142).

Trotzdem wird natürlich Kunst auch weiterhin kritisiert werden und diese Kritik wird ja auch massenhaft nachgefragt, da man aus ihr Hinweise darauf erhalten will, was denn aus dem Wust an wissenswerten, lesenswerten, sehens- und hörenswerten Kulturerzeugnissen wohl dem eigenen Geschmack nahekommt. Insofern kann eine Kritik des HdR, die den Maßstab für Relevanz an Nutzanwendbarkeit und am Gehalt an Allegorisierung mißt durchaus zu dem Schluß kommen, das dieses Buch nichts für Dich ist, wenn Du diese beiden Dinge suchst (obwohl viele wiedersprechen werden, die sagen, "Natürlich findest Du Nutzen und Allegorien" - nicht zuletzt Curry selbst). Was läßt sich aber dann finden? Laut Curry - und ich stimme ihm zu - zuallererst "Wunder" und "(Wieder-)Verzauberung", die helfen, den Alltag wieder anders zu sehen (S. 161). Das ist das, was Tolkien selbst als Wiederherstellung bezeichnete. Außerdem - und diesen Punkt führt Curry nicht explizit an - findet man eine besondere Art von Entspannung und Genuß durch das einfache Hinnehmen einer spannenden und mitreißenden Geschichte. Walter Benjamin schrieb, daß Märchen dann gut erzählt sind, wenn sie ohne den Balast psychologischer und wissenschaftlicher Erklärung auskommen, wenn sie auf die Mitteilung von Informationen, von denen wir schon so viel haben, einfach mal verzichten.

Am Schluß noch ein Wort der Kritik. Patrick Curry´s Buch weist einen großen Schwachpunkt auf, es ist inkonsequent: Leider ist es so, daß Curry letztlich genau das tut, was er in anderen so kritisiert. Auch er kann nämlich der Versuchung nicht widerstehen, Mittelerde beinahe durchgehend zu allegorisieren. In dem Abschnitt "Die Postmoderne in Mittelerde" ("Postmodernity in Middle Earth", S. 20-26) interpretiert Curry bspw. die Figur Saurons als Statthalter der Moderne mit ihrem unerschütterlichen Fortschritts- und Maschinenglauben und den Einen Ring als "Megamaschine", deren Gebrauch süchtig macht (76). Selbst wenn dem so wäre, daß Tolkien dies auch so sah - er hätte dem Leser, der sich die Geschichten ja ausdrücklich individuell aneignen sollte, dies doch wohl nicht vorschreiben wollen - und können. Als solches verletzt auch diese Interpretation den Stellenwert des HdR als Zweitschöpfung.


Literatur:
Curry, Patrick: Defending Middle Earth. Tolkien: Myth and Modernity. New York 1997.


Autor: Frank Weinreich
Quelle: Polyoinos



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